Evangelische Akademie Thüringen

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Gesundheit und Staat: Literarische Dystopie trifft auf pandemische Realität

Christiane Mock (li), alias "Frau Methode", las Textstellen aus dem Roman. Foto: © Utzel/EAT
Christiane Mock (li), alias "Frau Methode", las Textstellen aus dem Roman. Foto: © Utzel/EAT

Als Juli Zeh 2009 ihren Roman Corpus Delicti veröffentlichte, ursprünglich als Theaterstück für die Ruhrtriennale 2007 geschrieben, war Covid-19 noch anderthalb Dekaden entfernt und die damit verbundenen Maßnahmen keine reelle Erfahrung, die wir alle teilten. Wenn wir nun, mitten in einer Pandemie lebend, über den Text diskutieren, dann ist dieser Unterschied zu bedenken: Eine literarisch-dystopische Skizzierung einer Staatsform, die die Gesundheit ihrer Bürger als oberstes Ziel verfolgt und Prävention diktatorisch aufoktroyiert, ist etwas anderes als ein pandemischer Ausnahmezustand in einem grundsätzlich demokratischen Staat. Darin waren sich die Teilnehmenden des Literarischen Salons, der am Mittwoch, 24. März zum ersten Mal online stattfand, einig.

Die differenzierte Diskussion widmete sich in drei Themenblöcken einer Annäherung an den Roman und den Warnungen, die dieser an unsere Gesellschaft richtet. Zunächst stand die Frage im Raum, ob jemand, der körperliche Gesundheit nicht als Lebensziel verfolgt, schon krank genannt werden könne, wie dies auf den ersten Seiten des Buchs durch die Figur Kramer zum Ausdruck kommt; und ob Gesundheit nur die bloße Abwesenheit von Krankheit bedeutet, ob es gar ein „Recht auf Krankheit“ gibt, wie dies die Widerständigen in der Gesellschaft der Romanwelt fordern. Zwar, so wurde im Gespräch festgestellt, sind wir heute in den globalen Bedingungen immer noch genug damit beschäftigt, uns um das Recht auf Gesundheit für alle Erdenbürger zu bemühen, so dass uns eine solche Forderung eher absurd vorkommt; jedoch ist im Hinblick auf die stetig steigenden Tendenzen der Selbstoptimierung, der Körperfixiertheit und der Marketing-Strategien unseres Gesundheitssystem auch zu verstehen, woher theoretisch der Wunsch erwachsen könnte, Gesundheit nicht als Maß aller Dinge zu sehen.

In einem zweiten Block ging es um die Frage der persönlichen Freiheit im Einklang mit dem Gemeinwohl. Wenn die Gesundheitsprävention nicht mehr Privatsache ist, sondern als prinzipielles Erfolgsprinzip gilt, und zwar für den Einzelnen genauso wie für die Gesellschaft, dann wird diese Gesellschaft inhuman und unsolidarisch; politisch betriebene Prävention sei, so schreibt Juli Zeh in ihrem Begleitbuch Fragen zu Corpus Delicti (2020), gar totalitär, denn ein Präventionsstaat wie die in Corpus Delicti beschriebene METHODE, ersetze Zusammenhalt durch soziale Kontrolle. Gutes Leben als einheitliche, kollektive Vision und als Sache der Staatsmacht führt, so Zeh, unweigerlich zur Dystopie, das haben schon so manche Romane und Filme gezeigt.

Schließlich kam man im dritten Teil doch auf die Corona-Krise zu sprechen, und zwar in Bezug auf die Begriffe Normalität und Normativität, denn im vergangenen Jahr, stellten die Teilnehmenden fest, seien viele Normen verschoben worden. Von Grußformeln („Bleib gesund“) über neuen Alltagswortschatz bis hin zur Akzeptanz neuer Arbeits- und Begegnungsformen hat sich Vieles als (fast) normal etabliert, was vor der Pandemie noch undenkbar gewesen wäre. Auch die Beschäftigung mit Tod und Sterben gehört dazu.

Zwischen den Redebeiträgen der insgesamt 20 Teilnehmenden bereicherte Christiane Mock (Inhaberin der Buchhandlung Contineo und Kooperationspartnerin der Veranstaltungsreihe Literarischer Salon) mit vorgelesenen Textausschnitten aus dem Roman und dem Materialbuch die Runde. Passend zum Thema und auch zur derzeitigen Situation des Lockdowns war sie – ganzkörperlich infektionsgeschützt – verkleidet als „Frau Methode“ und gemahnte so mit zwinkerndem Auge an die erschreckenden Seiten des Themas.

Der nächste Literarische Salon in Kooperation mit Contineo wird am 3. November stattfinden. Gerne werden Vorschläge für zu besprechende Bücher entgegengenommen. Im Sommer können eigene Lieblingslektüren beim Literarischen Garten am 13. Juli und am 25. August vorgestellt werden.