Evangelische Akademie Thüringen

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Zwangsarbeit im Chemiedreieck – Bausoldaten in der DDR

Relikt aus der Zeit der Bausoldaten in den 80ern: Inschrift auf einem Betonbrocken im Eingangsbereich des Domgymnasiums Merseburg. Foto: © EAT
Relikt aus der Zeit der Bausoldaten in den 80ern: Inschrift auf einem Betonbrocken im Eingangsbereich des Domgymnasiums Merseburg. Foto: © EAT

Alle Besucher mussten daran vorbei. Im Eingangsbereich des Domgymnasiums Merseburg, direkt unter der Gefallenengedenktafel des Ersten Weltkriegs, lagen die Betonbrocken. Darauf stand zu lesen: EK 87/II. EK, das bedeutete in der NVA Entlassungskandidat, dahinter Jahr und Halbjahr.

Dieses Artefakt ist ein Relikt: Urheber waren wohl Bausoldaten, die auf dem Gelände der Hochschule Merseburg in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre Betonbauarbeiten zu verrichten hatten. Denn Merseburg war nach Prora der zweitgrößte Standort für jene Waffendienstverweigerer in der DDR, die im Volksmund „Spatis“ genannt wurden und aus Sicht der Stasi eine „legale Konzentration feindlich-negativer Kräfte“ bildeten. Besonders hart waren die Arbeitsbedingungen für die Pazifisten in Uniform in den maroden Chemiebetrieben Leuna, Bitterfeld und Wolfen.

Im Rahmen des Geschichtsprojekts „Ermutigung – Lebenswelt, Repression und Widerstand in der DDR und Osteuropa nach 1945“ hatte die Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt am 20. Juni zu einem Podiumsgespräch eingeladen. „Ideale, Pazifismus, Widerstand – aber zu welchem Preis?“ – so lautete die Frage, der der Historiker Justus Vesting in seinem einführenden Vortrag über „Zwangsarbeit im Chemiedreieck“ nachging.

In der anschließenden Diskussion mit dem ehemaligen Kultusminister Sachsen-Anhalts, Stephan Dorgerloh und dem Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen, Dr. Sebastian Kranich – beide frühere Bausoldaten – wurden mögliche politische und juristische Konsequenzen der wissenschaftlichen Einstufung als „Zwangsarbeit“ diskutiert. Vor allem aber ging es darum, was Bausoldaten einst gewagt und an Diskriminierung in Kauf genommen haben um ihrer Überzeugungen willen. Das Gespräch ergab: Direkt übertragbar sind die Bausoldatenerfahrungen auf heutige Entscheidungssituationen nicht. Doch gibt es für junge Leute auch heute immer wieder Punkte, an denen nonkonformes Verhalten etwas kosten kann. Stichwort etwa: Fridays for Future.