Alle Sommer wieder… kommt der Literarische Garten – und mit ihm lesebegeisterte Menschen, die über Bücher sprechen wollen. Sie bringen ihre Lektürefunde mit und lauschen den Empfehlungen der anderen. Die erste diesjährige Runde fand am Mittwoch, den 6. Juli auf dem Balkon der Evangelischen Akademie Thüringen statt, windgeschützt und mitten in der Abendsonne.
Obwohl nie vorher abgesprochen wird, wer welches Buch vorstellt, war die Auswahl wie immer vielseitig: Erich Frieds Gedichtband Am Rand unserer Lebenszeit (1987) war dabei, Fjodor Dostojewskis Novelle Weiße Nächte (1848), Thea Dorns Briefroman Trost. Briefe an Max (2021), Charlotte Woods Roman Ein Wochenende (2019), aus dem Science Fiction-Genre Ursula K. Le Guins Kurzroman Das Wort für Welt ist Wald (1972), das von Mario Markus herausgegebene Werk 222 Juden verändern die Welt (2019) und das Sachbuch Klartext Ernährung (2020) des Autorenduos Petra Bracht & Claus Leitzmann.
Angeregt gesprochen wurde unter anderem, entsprechend der Buchinhalte, über Freundschaft und die Akzeptanz des anderen in seiner Eigenheit (Wood), Trauer- und Verlustbewältigung in Zeiten von Corona (Dorn), die von der Kolonialisierung verursachten irreversiblen Schäden an der einheimischen Bevölkerung (Le Guin), die einflussreichen und weltverändernden Leistungen jüdischer Persönlichkeiten und deren Bekanntheit in der Gesellschaft (Markus) sowie über Dostojewskis romantische Seite und die von ihm dafür eingesetzten Stilmittel. Neben allen großen und kleinen Themen in der literarischen Runde bleibt stets Raum, um sich ein wenig kennenzulernen. Zwei Stunden vergehen dabei wie im Fluge…
Ein Blick auf das derzeitige Logo oben auf unserer Webseite verrät es: Die Evangelische Akademie Thüringen feiert in diesem Jahr ihr 75-jähriges Jubiläum. Das genaue Datum ist dabei vielleicht gar nicht so einfach zu bestimmen: „Schon 1955 wusste man es nicht mehr so richtig: War die Akademie schon 1946 gegründet worden oder erst 1949? Wenn Oberkirchenrat Gerhard Säuberlich es einmal so und dann anders notierte, dann sei ihm zugutegehalten: Einen offiziellen Gründungsakt gab es nicht“, beschreibt Akademiedirektor Dr. Sebastian Kranich die Schwierigkeiten der Datierung. Fest steht indes, dass der Jenaer Philosoph Gottfried Martin im März 1947 in einem Schreiben an Oberkirchenrat Erich Hertzsch eine thüringenweite Zusammenkunft christlicher Akademiker anregte. Der Landeskirchenrat erklärte darauf, man wolle „eine Rüstzeit für gebildete Gemeindeglieder auf dem Hainstein“ in Eisenach organisieren. Diese Rüstzeit zum Thema „Glauben und Wissenschaft“ vom 2. bis 4. August 1947 kann als Vorläufer-Veranstaltung dessen gelten, was in der Folgezeit die Evangelische Akademie werden sollte. Angetrieben vom Aufbruchsgedanken der Nachkriegszeit und dem Bedürfnis, mit der Schaffung von Diskursräumen etwas Neues aufzubauen, nahm die Akademie ihre Arbeit im Dialog von Kirche und Gesellschaft auf. Dabei sah sie sich stets auch der Frage gegenüber, welche Themen in diesem Dialog behandelt werden und wer für wen Akademiearbeit machen sollte. Erich Hertzsch etwa, der maßgeblich an der Gründung der Akademie beteiligt war, formulierte es noch kurz und bündig: „Das Ziel der ganzen Arbeit ist es, mit wissenschaftlich tätigen und wissenschaftlich interessierten Männern und Frauen der Thüringer evangelischen Kirche ins Gespräch zu kommen.“, so referierte Sibylle Wuttke in ihrem Vortragsteil. Heute, im Jahr 2022, versteht sich die Akademie als „ein Ort protestantischer Diskurskultur: Wir bieten Raum für die Auseinandersetzung mit relevanten Themen und bringen Menschen mit unterschiedlichen Positionen miteinander ins Gespräch. Auf diese Weise gestalten wir die öffentlichen Debatten mit, bringen christliche Perspektiven ein und beziehen Stellung.“
Am vergangenen Wochenende beging die Akademie das 75-jährige Jubiläum mit einem Sommerfest im und rund um das Zinzendorfhaus Neudietendorf. Zum Auftakt diskutierten der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck, die Thüringer Umweltministerin Anja Siegesmund und Bpb-Präsident Thomas Krüger im Podium über „Freiheit und Verantwortung in einer polarisierten Gesellschaft“. Am Nachmittag überbrachten langjährige Partnerinnen, Wegbegleiter und Freundinnen der Akademie ihre Grußworte zum Jubiläum. Wer die Akademie selbst und das Zinzendorfhaus an diesem Tag etwas besser kennenlernen wollte, war zu Angeboten zum Mitmachen eingeladen. So gab es etwa eine Ortsführung durch Neudietendorf und über den Gottesacker der Brüdergemeine, eine Geländerallye mit Handy oder Tablet und die Möglichkeit, im Traditionskabinett in Zeugnissen aus 75 Jahren Akademiegeschichte zu stöbern. Tanzbegeisterte konnten im Tango-Schnupperkurs einige Runden auf dem Parkett drehen, um sich danach an der abendlichen Cocktailbar zu den Klängen der Musik des Swing-Quartetts „Flèche d’Or“ zu erfrischen. Das Sommerfest endete mit einem sonntäglichen Gottesdienst in der Neudietendorfer Brüderkirche mit einer Predigt von Ilse Junkermann, der ehemaligen Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.
„Die Zukunft hat eine lange Vergangenheit“, so steht es im Babylonischen Talmud geschrieben. Auch das Themenjahr zu neun Jahrhunderten jüdischen Lebens in Thüringen hatte eine längere Vorbereitungszeit und wird hoffentlich noch weit in die Zukunft nachwirken – so der Wunsch aller Beteiligten an Planung, Organisation und Durchführung. Gestern jedoch konnte in diesem zeitlichen Prozess eine Zäsur gefeiert werden, denn das eigentliche Themenjahr ist zu Ende gegangen und es galt, Dank zu sagen für das Engagement unterschiedlichster Institutionen und Einzelpersonen. Dazu luden die Präsidentin des Thüringer Landtags Birgit Keller und der Ministerpräsident des Freistaats Thüringen Bodo Ramelow in den Landtag ein.
Empfangen wurden die Gäste zunächst im Foyer mit Infoständen aus einzelnen Projekten und der Musik von Anna Margonlina’s Jazz, Swing & Yiddish Band. Im Plenarsaal blickten Birgit Keller und Bodo Ramelow in ihren Grußworten noch einmal auf die Beweggründe für das Themenjahr und die nun zu verzeichnenden Ergebnisse zurück. Weit über 300 Angebote habe es im Veranstaltungszeitraum gegeben; viele davon widmeten sich dem Auftrag, jüdisches Leben in seiner Gesamtheit abzubilden, also auch vom „Triumpf des Lebens“ Zeugnis zu leisten und neben den Blickwinkel der Shoa und der damit verbundenen Opferrolle die Lebendigkeit und die herausragenden Errungenschaften jüdischer Mitmenschen, historischer wie zeitgenössischer, zu stellen. So widmete Birgit Keller den Beginn ihrer Rede Eduard Rosenthal, der die erste demokratische Verfassung Thüringens entworfen hat, und Bodo Ramelow verwies auf das weit über Thüringen hinaus bekannte Unternehmen Simson in Suhl.
Anschließend kamen beim von Johannes Gräßer moderierten Podium der Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, Prof. Dr. Reinhard Schramm, und der Landesrabbiner Thüringens, Alexander Nachama, zu Wort, die aus ihrer Perspektive vom Gelingen des Themenjahrs berichteten. Schramm betonte mehrfach, wie wichtig es für heutige Juden sei, gute Kontakte und Anerkennung in der Gesellschaft zu finden und sich nicht in der eigenen Glaubensgruppe zu isolieren: „Wir wollen unseren Beitrag leisten, aber dafür brauchen wir die Gesellschaft“. Antisemitismus schade nicht nur den Juden, sondern der gesamten demokratischen Gesellschaft. Gerade weil es sich für eine Minderheit schwierig erweise, personell wie finanziell, ein solches Unternehmen wie das Themenjahr zu stemmen, sei er überaus dankbar, was da geleistet wurde in der kurzen Zeit und dass das Projektziel aufgegangen sei: „Wir selber hätten es allein nicht geschafft“.
Die Evangelische Akademie Thüringen war mit mehreren Veranstaltungen am Programm des Themenjahrs beteiligt und in die Vorbereitungen eingebunden. So waren zum Beispiel bei der Litera-Tour in Heilbad Heiligenstadt rund 100 Menschen auf den Spuren Heinrich Heines und der jüdischen Stadtgeschichte unterwegs gewesen. Beim gestrigen Dankesempfang war Studienleitern Dr. Sabine Zubarik anwesend und vertrat die EAT.
Die Wahrheit erkennen – den Weg finden: Unter diesem Motto stand das Friedensgebet der Aktion der Christen zur Abschaffung der Folter (ACAT) am Montag, den 20. Juni, in der Nikolaikirche Leipzig. Diese Kirche, in der nunmehr seit 40 Jahren Friedensgebete stattfinden, sei ein guter Ort zum Einsatz für die Wahrheit, so der gebürtige Vietnamese und Menschenrechtsaktivist Ton-Vinh Trinh-Do.
Akademiedirektor Sebastian Kranich nahm in seiner Predigt unter anderem diesen Gedanken auf. Er erinnerte an den Dichter Václav Havel und das Motto: In der Wahrheit leben. Havel habe in den 1970er Jahren die tägliche Lüge und deren passive Hinnahme als die Grundlage kommunistischer Herrschaft erkannt. Die Diktatur, so Havel, sei undenkbar, wenn jeder Bürger den Mut zur Verweigerung der Lüge aufbrächte. Welche Herausforderung darin aber stecke, zeige der vollständige Titel seiner Schrift: Versuch in der Wahrheit zu leben.
Ins biblische Zentrum dieses Friedensgebetes hatte bereits zu Beginn der ACAT-Vorsitzende Wolfgang Bentrup geführt: Die Wahrheit erkennen – den Weg finden sei als Überschrift gewählt worden, da das Thema aktueller kaum sein könne angesichts des Krieges im Osten Europas und der Propaganda, die den Krieg begleitet und begründen soll, besonders in Russland. „Aber war es nicht schon immer so?“, so Bentrup: „Verunsichert durch Krisen und Veränderungen in der Welt, klammern sich immer mehr Menschen an Vereinfachungen, die auf Verschwörungstheorien und Fake News basieren, welche über Medien oder soziale Netzwerke verbreitet werden.“
Die Wahrheit sei oft schwer zu erkennen. Das sei die Situation, in der sich Pilatus beim Prozess gegen Jesus befand: Was ist Wahrheit? (Joh 18,38). Pilatus habe gewusst, dass das politische Spiel von sich widersprechenden Wahrheiten durchsetzt sei, und er habe bezweifelt, ob es überhaupt eine Wahrheit gebe. Doch Jesus hätte ihm eben bestätigt, dass es die Wahrheit gibt: Mein Königreich gehört nicht dieser Welt an. […]. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeuge. Alle, die der Wahrheit angehören, hören auf meine Stimme. (Joh 18,36-37).
Jesus habe sich als Zeuge der Wahrheit bis hin zum Märtyrertod präsentiert. Aber er habe die Frage des Pilatus nicht beantwortet. „Christus setzt sowohl den Weg als auch die Wahrheit und das Leben mit seiner Person gleich. Man findet diesen Weg, indem man Christus nachfolgt. Das haben seine Jünger getan“ – so Bentrup weiter.
ACAT versucht den Weg der Nachfolge zu gehen, indem sich die Menschenrechtsorganisation mit Briefaktionen und Petitionen für Gefangene und Misshandelte einsetzt und für sie betet. So wurde im Leipziger Friedensgebet an den in Vietnam inhaftierten Journalisten Le Huu Minh Tuan und an die in China inhaftierte Journalistin Huang Xueqin erinnert und gebetet, ebenso wie an die misshandelten Menschenrechtsaktivistinnen Sultana Khaya und ihrer Schwester Luara in Marokko/Westsahara und die unter russischer Besatzung gefolterten Menschen in der Ukraine.
Ungefähr 70 Menschen erlebten in der Nikolaikirche Leipzig eine intensive und bewegende Stunde, zu der auch Orgelmusik und gemeinsamer Liedgesang beitrugen. Eine Liedstrophe wurde allerdings nicht gesungen. Zum Abschluss seiner Predigt rezitierte Sebastian Kranich die zweite Strophe von Jesu meine Freude in der Fassung des Liedermachers Gerhard Schöne:
Du warst eingemauert / Du hast überdauert / Lager, Bann und Haft
Bist nicht totzukriegen / Niemand kann besiegen / Deiner Liebe Kraft
Wer dich foltert und erschlägt / Hofft auf deinen Tod vergebens / Samenkorn des Lebens
Maria, die Demütige. Maria, die Schweigende. So wurde die Mutter Jesu lange dargestellt. Allenfalls im Lobgesang Marias (Lk 1,46-55) kam ab und an eine andere Seite zum Vorschein. Martin Luther etwa schrieb in seiner Magnifikat-Auslegung:
„Maria singt von Gott, der da mächtig ist. Oh das ist eine große Kühnheit und ein großer Raub von solchem jungen, kleinen Mägdlein: Getraut sich, mit einem Wort alle Mächtigen schwach, alle Großtuenden kraftlos, alle Weisen zu Narren, alle Berühmten zuschanden zu machen.“
Doch Dr.in Dr.in Schwester Teresa Forcades Vila (Kloster Montserrat, Barcelona) zeigte beim öffentlichen Abendvortrag am 10. Juni im Bildungshaus St. Ursula Erfurt anhand von Marias Worten und Handlungen auf: Maria wird in den Evangelien nach Lukas und nach Johannes auch sonst als aktive Frau geschildert: Sie fragt bei der Ankündigung ihrer Schwangerschaft kritisch nach, wie solches geschehen kann. Sie entscheidet sich freiwillig für diese und geht damit ein Risiko ein – bis hin zur drohenden Steinigung. Erst dann, im Lobgesang, kommt Freude auf. Das erste Wort, das sie nach Johannes direkt zu Jesus spricht, ist: Es fehlt an Wein. Bei der Hochzeit zu Kana sieht sie, woran es mangelt und tut da etwas, wo Jesus noch zögert. Sie geht zu den Dienern und bringt Jesus so zum Handeln.
Die Kühnheit, der Mut der Maria: Das sei es, was auch die Initiative Maria 2.0 in der römisch-katholischen Kirche motiviere. Es brauche einen gerichteten Mut, um Veränderungen zu erreichen, so Marie Merscher (Maria 2.0 Berlin) im Gespräch. Teresa Forcades ergänzte: Courage bedeute, es kommt von Herzen und das Gehirn sagt, so machen wir das jetzt.
Der Abend fand in hybrider Form – in Präsenz und online statt. Er war eine Kooperation der Ev. Frauen in Mitteldeutschland, der Ev. Akademie Thüringen und dem Amt für kirchliche Dienste in der EKBO. Die Moderation hatte Prof.in Dr.in Ulrike E. Auga (Universität Hamburg). Die Begrüßung und der Vortrag wurden aufgezeichnet und werden demnächst online abrufbar sein.
Am warmen Sommerabend des 7. Juni trafen sich mehr als 60 Gäste aus Politik, Kirchen und Gesellschaft zum Empfang des Kirchenkreises Wittenberg. Nach einer Andacht sprach Akademiedirektor Dr. Sebastian Kranich in der Schlosskirche zum Thema: „Eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei – Herausforderung Einsamkeit“.
Einsamkeit habe gesundheitliche wie gesellschaftlich negative Folgen, so Kranich. In der Corona-Krise seien besonders alte Menschen, isoliert in Pflegeheimen, wie junge Menschen, getrennt vom persönlichen Umgang mit Gleichaltrigen, von Einsamkeit betroffen gewesen – im Sinne eines objektiven Mangels an sozialen Kontakten.
Diese Ausnahme bestätige, was in der Forschung bekannt sei: In Krisen- und Kriegszeiten steige die Einsamkeit an. Der zweite Weltkrieg etwa habe eine intensive Vereinsamung erzeugt. Die Gründe hierfür seien klar: Ganze Generationen traumatisierter Männer seien in ihre Familien zurückgekehrt – falls sie nicht gefallen waren – und hätten dort die Qualität der Familienbeziehungen gemindert. Der Grad an nachhaltiger emotionaler Isolation durch diesen Krieg ließe sich kaum überschätzen. Diese Erkenntnis sei nicht nur eine historische sondern aktuell im Blick auf die Kinder dieser Zeit, die heute alt werden und sind. Sie sei auch mehr als Vergangenheit, wenn man an die Wirkweisen trans- oder intergenerationaler Weitergabe denke.
Unbestreitbar sei, dass Einsamkeit der Gesundheit massiv schade. In Studien sei nachgewiesen: Isoliert lebende Menschen tragen ein höheres Risiko an einem Herzinfarkt, an Durchblutungsstörungen des Gehirns und Störungen des Blutkreislaufs, an Krebs oder an Magen-Darm-Erkrankungen zu sterben. Bei isoliert lebenden Menschen sind die Entzündungswerte im Blut höher. Einsamkeit führt zu einer geringeren Schlafqualität: Nicht so sehr, was das Einschlafen und die Schlafdauer angeht. Aber der Schlaf ist stärker durch Minierwachen fragmentiert als bei Nichteinsamen. Im ersten Corona-Lockdown habe eine 88-jährige Seniorin in einem Caritas-Heim in Graz geäußert: „Die Einsamkeit tut schon weh.“ Und genau das sei wissenschaftlich erwiesen. Denn seit ein paar Jahren sei bekannt: Schmerzen und Alleinseins werden im Gehirn im selben Areal, im limbischen System, verarbeitet.
Der Herausforderung Einsamkeit sei auf zwei Ebenen zu begegnen: Es gelte soziale Isolation zu durchbrechen durch bessere Gemeinschaftsangebote. Und es gelte – für Menschen mit einem subjektiv starken Einsamkeitserleben – psychotherapeutische und seelsorgerliche Angebote zu machen. Darüber hinaus käme es darauf an, dass über Einsamkeit offen kommuniziert werden könne. Einsamkeit dürfe kein individueller Makel mehr sein, den man schamhaft zu verbergen suche. Es sei zu hoffen, dass die Corona-Krisen-Erfahrung uns begreifen lässt: Junge und Alte können einsam sein. Jede und jeder könne im Leben davon betroffen werden. Sei es durch Trennungen oder den Tod des Partners, der Partnerin.
Abschließend bemerkte Kranich: Einsamkeit korreliere eindeutig mit Einkommen. Große Studien zeigten konsistent: Ein höheres Einkommen gehe mit geringerer Einsamkeit einher. Doch zeige sich das Einsamkeitsrisiko auch am anderen Ende der Skala: Die Einsamkeitswerte seien tendenziell auch hoch bei Personen mit höherer Bildung, die in Vollzeit arbeiten. Auch die 60-Tage-und-mehr-Woche oder das Herausgehobensein aus der Gruppe könnten einsam machen.
Hier könne nun das Lob des Alleinseins gesungen werden; des temporären Rückzugs aus den Geschäften an einen Ort der Muße. Doch sei bei einem Empfang besser zur Geselligkeit geraten. So wie es Martin Luther in einem Brief an den unter Depressionen leidenden Theologieprofessor Hieronymus Weller unter anderem geschrieben habe:
„Die Einsamkeit musst du auf jede Weise fliehen, denn so fängt dich dieser Teufel am sichersten und stellt dir nach, wenn du allein bist. […] Daher sollst du mit deiner Frau und den anderen scherzen und spielen, damit du diese teuflischen Gedanken zu Fall bringst, und sei darauf bedacht, dass du guten Mutes bist. […] Suche sofort die Unterredung mit Menschen oder trinke etwas reichlicher.“
Nach einer kurzen Diskussion, bei der es um Einsamkeit und soziale Medien, Einsamkeit in der Großstadt und das individuell sehr unterschiedliche Einsamkeitsempfinden ging, war reichlich Gelegenheit Luthers Worten Folge zu leisten: bei Begegnung, Imbiss und Austausch auf dem Schlosshof.