Am 15. März lag das fiktive Örtchen Allersleben mal direkt auf der thüringisch-hessischen Grenze. Im Rahmen einer Fortbildung der Point Alpha Stiftung im Haus auf der Grenze zum Thema „Jung sein in Ost und West“ stand die Vorstellung der Methode „Allersleben. Ein Biografiespiel zum Aufwachsen in der DDR“ auf dem Programm. Das Spiel wurde in den vergangenen zwei Jahren an der Akademie in Zusammenarbeit mit dem Institut Spawnpoint aus Erfurt entwickelt. Gemeinsam mit Geschichtslehrer:innen und Interessierten aus Hessen und Thüringen wurde gespielt und über die Methode diskutiert.
„So laut gelacht wurde in diesem Seminarraum noch nie“, erklärte eine Mitarbeiterin der Gedenkstätte Point Alpha zum Abschluss. Aber darf man das? Lachen über das Aufwachsen in der Diktatur? Auf jeden Fall, fanden die Teilnehmenden. Denn wenn junge Menschen sich intensiv mit DDR-Geschichte beschäftigen sollen, die ihnen oft sehr weit entfernt von der eigenen Lebenswelt erscheint, ist es ohne Spaß kaum möglich, sie zu motivieren. Außerdem gibt es einen großen Unterschied zwischen einer spielerischen Auseinandersetzung, die Freude bereitet, und Auslachen. So finden sich in jeder neuen Spielrunde Anlässe für Gelächter und für eine ernsthafte Auseinandersetzung damit, wie das Leben in der Diktatur tiefgreifenden Einfluss auf die Biografien der Menschen hatte.
Erstaunlich viel Publikum war, angesichts des nicht leicht verdaulichen Themas, zum Augustinerfilmabend am 11. März im Luthersaal des Augustinerklosters zu Erfurt zusammengekommen. Diesmal ging es um die Chronik einer Krebserkrankung, die vom Zeitpunkt der Diagnose bis zum Moment des Sterbens aus der Perspektive der betroffenen Familie nachverfolgt wird.
Der mehrfach ausgezeichnete Film „Halt auf freier Strecke“ von 2011 unter der Regie von Andreas Dresen ist ein Spielfilm, der aufgrund der äußerst authentischen Spielweise, der Auswahl der Darsteller:innen und des offenen Drehbuchs mit vorab kaum festgelegten Dialogen nicht auf dramatische Schockmomente oder romantisierende Erzählung setzt, sondern vielmehr dokumentarischen Charakter hat, ohne faktenüberladen zu wirken. Quasi hautnah bekommt man das emotionale Auf und Ab der Krankheitsbewältigung und die Auswirkungen auf den Familienalltag des Ehepaars und der beiden Kinder mit. Die großen Fragen bleiben dabei nicht außen vor: Wie sagt man es den Kindern, dass der Vater sterben wird, wie den eigenen Eltern? Muss man sich als Angehöriger zusammenreißen oder darf man die eigene Traurigkeit und Wut zeigen?
Beim anschließenden Gespräch ging es zunächst um Aspekte des Films, die die Zuschauenden besonders berührt haben oder mit denen sie persönliche Erfahrungen verbinden konnten. Angesprochen wurde unter anderem die Eingangsszene, in der das Ehepaar vom Arzt die Diagnose des inoperablen Gehirntumors erklärt bekommt, sowie spätere Momente, in denen die Betroffenen von medizinischen, therapeutischen und seelsorgerlichen Fachkräften mal besser, mal schlechter aufgefangen werden. Aber auch die Ermöglichung der häuslichen Pflege und der Sterbebegleitung zu Hause blieb dem Publikum sehr eindrücklich in Erinnerung.
Christine Mosbach und Marcus Sternberg vom Thüringer Hospiz- und Palliativverband, die der Einladung als Gesprächspartner für diesen Augustinerfilmabend gefolgt waren, betonten die Wichtigkeit der Authentizität im Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden, gerade angesichts der eigenen Hilflosigkeit und Überforderung. Zu sagen, dass einem die Worte fehlen, kann für die zwischenmenschliche Beziehung wertvoller sein als eine gutgemeinte Floskel oder zur Schau gestellte Stärke.
Die Veranstaltungsreihe Augustinerfilm ist eine Kooperation des Medienzentrums der EKM, des Augustinerklosters zu Erfurt und der Evangelischen Akademie Thüringen. Der nächste Termin findet am 18. November statt.
Wie passen politische Bildung und die Video-App TikTok zusammen? Im Digitalen Bildungshaus der EKM drehte sich am Mittwoch alles um diese Frage und das Interesse daran war groß. Bis zu zwei Stunden täglich swipen sich vor allem junge Menschen durch die Kurzvideos, verteilen Herzchen und kommentieren. Zunehmend entdecken auch politische Akteure die App für sich. Besonders erfolgreich sind hier populistische und rechtsextreme Akteure – in Deutschland namentlich die AfD, deren TikTok-Reichweite die aller anderen Parteien zusammen übersteigt. Dies liegt zum einen daran, dass sie hier aktiver ist. Zum anderen aber auch daran, dass emotionalisierende, prägnante Botschaften auf der Plattform am besten funktionieren.
Politikwissenschaftler und TikTok-Experte Marcus Bösch von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg fasste fünf Besonderheiten von TikToks zusammen. Sie zeichnen sich durch eine hohe Dichte an emotionalen Spitzen aus („High density“). In jedem TikTok steckten viele, schnell aufeinanderfolgende Hahas und Uhhs, erklärte Bösch. Die zweite Besonderheit sei das sogenannte „Layered Storytelling“, also viele Schichten oder Bedeutungsebenen, die miteinander verwoben werden und so in kürzester Zeit viele Informationen, Emotionen und Botschaften vermitteln können. Drittens zeichneten sich TikToks durch „Realness“ oder Authentizität aus. In Abgrenzung vor allem zu Instagram gehe es gerade nicht um die perfekte Inszenierung. Viertens fänden sich in TikTok-Videos häufig Memes, also popkulturelle Verweise, die über den geteilten Wissensvorrat der Zielgruppe funktionieren. So können Themen oder Deutungsrahmen gesetzt werden, ohne sie auszuführen. Eine große Rolle spielten dabei auch Emojis, die zum Teil mit festen Bedeutungen oder Codes belegt sind. So steht ein blaues Herz für Zustimmung zur AfD. Als letzte Besonderheit nannte Bösch „Vibes“, die sich als Momente audiovisueller Eloquenz umschreiben ließen und sich aus Bild, Text, Sound und Bewegung zusammensetzten. Nicht jedes dieser fünf Elemente finde sich in jedem Video. Die TikToks, die auf der Plattform viral gingen, zeichneten sich allerdings genau dadurch aus. Durch die dichte Machart mit den vielen Bedeutungsschichten und popkulturellen Querverweisen schlussfolgerte Marcus Bösch: „TikToks passieren im Kopf“.
León Eberhardt von der Plattform politikneugedacht.de erklärte den Teilnehmenden im Anschluss, wie politische Bildung auf TikTok gelingen kann und gab praxisnahe Tipps von der technischen Ausstattung bis zur Gestaltung. Jedes TikTok werde erst einmal einer Testgruppe von 300 User:innen angezeigt – ganz gleich, wie klein oder groß der absendende Account. Je nach Reaktion dieser Zielgruppe, werde das Video dann weiter angezeigt, ginge viral oder auch nicht. Das unterscheide TikTok von anderen Plattformen, da die algorithmische Kuratierung die Inhalte bestimme und weniger die bewusste Auswahl der Nutzer:innen. „Die Bewertung, ob ein Video gut ist, ist viel ehrlicher und radikaler als auf anderen Plattformen“, berichtete León Eberhardt.
„Ich habe jetzt viel mehr Wissen und weniger Berührungsängste“, dankte eine Teilnehmerin am Ende für die Veranstaltung. Trotz aller datenschutzrechtlichen Bedenken und hohen Anforderungen an popkulturelles Wissen und audiovisuelle Eloquenz: Politische Bildung gehört auf TikTok, wenn sie ihre Zielgruppe erreichen will.
Ein Wochenende lang schreiben – und dann noch über Liebesangelegenheiten? Diejenigen unter den 20 Teilnehmenden, die schon einmal bei einer der vorherigen Ost-West-Schreibwerkstätten in Neudietendorf dabeigewesen waren, wussten: Das wird kein Problem werden! Aber auch solche, die zum ersten Mal mitmachten, verloren schnell alle Zweifel. Ehe man sich’s versah, war man mit der ersten kurzen Übung bereits mittendrin im Schreibprozess und die ersten Seiten des noch weißen Heftes füllten sich.
Das Referent:innen-Team Susanne Niemeyer und Matthias Lemme, die in Kooperation mit Studienleiterin Sabine Zubarik seit 2020 die Ost-West-Schreibwerkstatt als Veranstaltungsformat einmal jährlich anbieten, leiteten auch diesmal wieder so behutsam und vielseitig durchs Programm, dass der Gruppe nicht nur das Schreiben, sondern auch das gemeinsame Vorlesen – mal in der großen Besetzung, mal in Kleingruppen – leicht fielen.
Nie ging es dabei um eine Bewertung, weder des literarischen Könnens, noch der erzählten Erfahrungen; im Vordergrund standen allein der thematische Austausch und die Begegnung – insbesondere zwischen Ost- und Westbiographien in allen Schattierungen, Generationen und Vermischungen. Denn viele können inzwischen aufgrund von Wohnortswechsel, Arbeitsverhältnissen, Familienkonstellationen und nicht zuletzt durch Partnerschaften von sich sagen, sie seien hier ein bisschen Ost, dort ein bisschen West, beides gleichermaßen oder keins von beidem so richtig.
„Ganz Ost“ war jedoch der Samstagabend gestimmt, denn beim gezeigten Film „Die Legende von Paul und Paula“ handelt es sich um einen Kultfilm der DDR aus den Siebziger Jahren. Lange wurde im Anschluss diskutiert, warum die Geschichte Kultstatus erlangte, was die Beziehung von Paul und Paula eigentlich ausmachte und wie sie in ihrer Zeit und im politischen Umfeld zu verorten war.
Was über die erste und spätere Lieben, über Beziehungen aller Art und die Partnerwahl erzählt wurde, bleibt den Seiten der persönlichen Schreibhefte, den Ohren der Anwesenden und den geschützten Gesprächsräumen vorbehalten. Ein abschließendes Highlight war jedoch am Sonntag Mittag die Übergabe von selbstgeschriebenen Orakeln und einer Rose von und an jede Teilnehmerin. Sowieso ging man mit vielen Sätzen und Geschichten der anderen im Kopf nach Hause, nun kam noch ein Text auf Papier dazu.
In Jessamine Chans dystopischem Roman „Institut für gute Mütter“ wird den Frauen, die nach Meinung der Kinderschutzbehörde in Sachen Aufsichts- und Erziehungspflicht nachhilfebedürftig sind, viel abverlangt. Anhand von Roboterkindern sollen sie in einer geschlossenen Anstalt, fern von ihren leiblichen Kindern, lernen „gute Mütter“ zu sein.
Aber was ist das überhaupt, eine „gute Mutter“? Dass Erziehungsnormen immer auch abhängig sind von den jeweils herrschenden Ideologien, darin waren sich die elf Teilnehmenden des Literarischen Salons am Montag, den 26.2. in der Buchhandlung Contineo in Erfurt recht einig. So wurde zum Beispiel aus einem Ratgeber für Frauen von 1934 zitiert, der nicht nur für Mütter in der Zeit des Nationalsozialismus prägend war, sondern sich noch bis weit in die Sechziger Jahre in den häuslichen Bücherschränken befand und befolgt wurde. Heute gelten die brachialen Methoden als grobe Vernachlässigung.
Inwieweit der Staat in die Erziehungsbelange der Eltern eingreifen oder gar Kinder aus dem elterlichen Haushalt entfernen darf, ist in unserem Grundgesetz geregelt. Doch wann das Wohl eines Kindes gefährdet ist, muss kleinteilig von Fall zu Fall entschieden werden. In Chans Roman ließ die erschöpfte Mutter ihr Kleinkind für einige Zeit allein zu Hause, um einen Kaffee und etwas aus dem Büro zu holen. Die Nachbarn alarmierten aufgrund des anhaltenden Schreiens die Behörde und die Protagonistin sieht ihr Kind für lange Zeit nicht wieder. Sie muss sich über ein Jahr einem harten – und unmenschlichen – Training unterziehen und verliert zunehmend die Bindung zu ihrer Tochter.
Weit hergeholt meinen die einen, gar nicht so unwahrscheinlich sagen die anderen: „In der DDR wurden Kinder von Personen, die Fluchtversuche gewagt hatten, auch ins Heim gesteckt und die Eltern sahen ihr Kind nie wieder.“ Manchmal sei es aber auch gut, dass der Staat eingreife und ohnehin sei es für Kinder, die zu Hause Gewalt erfahren, schwierig genug sich Gehör zu verschaffen.
Auch über Patchwork-Familien und Co-Parenting wurde gesprochen. Denn neben dem klassischen Mutter/Vater/Kind-Modell existieren inzwischen viele weitere Modelle, die mehr und mehr Anerkennung in der Gesellschaft finden. „Was ist überhaupt mit den Vätern in dem Roman?“, fragen die Teilnehmenden sich untereinander. Die scheinen andere Bedingungen und wesentlich mildere korrigierende Maßnahmen zu erhalten – von ihnen wird nicht erwartet, dass sie perfekte Elternteile sind.
Am Ende bleibt die Frage, warum sich Dystopien um so viel ausführlicher denken und erzählen lassen als Utopien. Warum fällt es uns so leicht, extrem schlechte Erziehungsbedingungen weiterzuspinnen, und so schwer, Idealzustände zu konkreten und detaillierten Geschichten zu formen? Vielleicht liegt dies auch daran, dass wir klarer vor Augen haben, was wir nicht wollen, der Weg zu einer positiven Formulierung von Werten und die dazugehörigen Handlungsanweisungen für Erziehungsberechtigte aber viel Arbeit ist – sowohl individuelle als auch gesellschaftliche.
Gespräche wie beim Literarischen Salon steuern einen Teil dazu bei, sich über die eigenen Erfahrungen und Wünsche klar zu werden und mit anderen darüber in Austausch zu kommen.
Täuschend ähnlich ist der Schienenabstand zwischen Russland und Deutschland. Tatsächlich differiert die Spurweite um 10 cm. Mit diesem Beispiel traf der in der Ukraine geborene gelernte Maschinenbauer, Pfarrer und Friedensbeauftragte der Bremischen Landeskirche Andreas Hamburg den neuralgischen Punkt des fünften digitalen Studientags der Evangelischen Akademien zur Friedensethik. Denn vieles, was so ähnlich aussieht in Ost und West, differiert bei genauem Hinsehen.
Das gilt insbesondere für die Ideologie des „Russki Mir“, die hinter dem russischen Imperialismus steht. Wer einmal russisch gelernt hat, der weiß: „Mir“ kann „Welt“, „Frieden“ oder „Gemeinschaft“ heißen. Ein religiös und emotional aufgeladener Raum des Russischen wird so zum Anspruch auf Länder und Gebiete wie dem der Ukraine. Dr. Oleksandr Zabirko (Uni Regensburg) führte dazu aus: Während Großbritannien, Frankreich und Spanien postimperiale Narrative entwickelt haben und in Deutschland von „deutschsprachigen Ländern“ geredet wird, ist Russland akut imperialistisch.
Prof. Dr. Jörn Happel (Uni Hamburg) präsentierte diesbezüglich verschiedene Landkarten. Eine, die seit zwei Jahren in Russland verbreitet wird, zeigt die Ukraine als Konglomerat „russischer Geschenke“ – des Zaren, von Lenin, Stalin und Chruschtschow. Putin inszeniere sich als „Oberhistoriker“ und als „Feldherr“ über Karten gebeugt, so Happel. In der Diskussion am Ende des Studientags ging es allerdings rasch wieder um den altvertrauten US-amerikanischen Imperialismus.
Welche psychischen Folgen der russische Angriffskrieg für in Deutschland lebende Menschen aus der Ukraine zeitigt, wurde in den Ausführungen von Prof. Dr. Beate Mitzscherlich (HS Zwickau) deutlich. Die zivilgesellschaftlich im EuropaMaidan Leipzig e. V. engagierte Psychologin beschrieb eindrücklich, wie deren psychosoziale Situation vom Kriegsverlauf geprägt ist. Zugleich gelte es für aus der Ukraine Geflüchtete im deutschen Hier und Jetzt zu leben.
Und die Aussichten? Beate Mitzscherlich schätzte: Ein Drittel bis die Hälfte der Geflüchteten wollten nicht zurück in ihr zerstörtes Land. Susanne Müller (Brot für die Welt) nannte drei Punkte zum Wiederaufbau. Und Andreas Hamburg reagierte mit: „Gutes Hoffen und Böses ahnen“. 40 Jahre habe die Wüstenwanderung des Volkes Israel gedauert. 40 Jahre nach Ende der Sowjetunion könne Zeit sein für etwas anderes – in der Ukraine eher als in Russland. Angesichts der Traumatisierung gehörten große zukunftsweisende Konzepte jedoch in den Bereich der Prophetie.
Die Veranstaltung wurde mitgeschnitten und wird demnächst auf unserem YouTube-Kanal zu sehen sein. Außerdem ist eine epd-Dokumentation geplant.